Stellungnahme des Arbeitsbereichs Deutsch als Zweitsprache am Institut für Germanistik der Universität Wien

Stellungnahme zu den Deutschförderklassen vom Arbeitsbereich DaZ (Germanistik) auf der Homepage des Parlaments

 

An das

Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung

Minoritenplatz 5

1010 Wien

 

Betrifft: Entwurf eines Bundesgesetzes, mit dem das Schulorganisationsgesetz, das Schulunterrichtsgesetz und das Schulpflichtgesetz 1985 geändert werden

 

Sehr geehrter Minister Faßmann, sehr geehrte Damen und Herren,

als Lehrende und Forschende im Bereich Deutsch als Zweitsprache stellen wir zum vorliegenden Ministerialentwurf betreffend Bundesgesetz, mit dem das Schulorganisationsgesetz, das Schulunterrichtsgesetz und das Schulpflichtgesetz 1985 geändert werden, Folgendes fest:

Zu Artikel 1 und Artikel 2:

•     Die Ergebnisse nationaler und internationaler Forschung zur Sprachförderung zeigen eindeutig, dass vorwiegend integrative Maßnahmen erfolgreicher sind, um Kinder und Jugendliche beim Erwerb der jeweiligen Bildungs- und Unterrichtssprache nachhaltig zu unterstützen. Die geplanten Deutschförderklassen und Deutschförderkurse sind additive Maßnahmen und als solche nicht in dem Maße förderlich oder nachhaltig, wie es eine Verschränkung von integrativen und vorübergehend additiven Maßnahmen mit Schwerpunkt auf andauernder, integrativer Sprachförderung wäre.

•     Die derzeit geplanten Maßnahmen zur Deutschförderung haben aufgrund der hohen Stundenanzahl (15 Wochenstunden in der Volksschule, 20 in der Sekundarstufe I), die Schülerinnen und Schüler in Deutschförderklassen verbringen sollen, tendenziell segregierende Wirkung. Schülerinnen und Schüler werden dadurch zu lange von ihrer „Stammklasse“ getrennt, was für das Zusammenleben und das gemeinsame Lernen in der Schule nicht förderlich ist. Sprache wird wesentlich durch soziale Interaktion erworben. Diese entsteht vor allem dadurch, dass Schülerinnen und Schüler dazugehören, sich austauschen, miteinander spielen oder lernen wollen. Segregativer Förderunterricht entzieht dieser positiven Sprachlernmotivation ihre Grundlage.

•     Sprachliches und fachliches Lernen müssen nach aktuellen Forschungsergebnissen eng miteinander verschränkt sein, um die Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen mit anderen Erstsprachen als Deutsch zu erhöhen. In den geplanten Maßnahmen wird die Verschränkung von sprachlichem und fachlichem Lernen nicht berücksichtigt, was das Lernen besonders in dieser Zielgruppe erschwert.

•     Schülerinnen und Schüler, die eine Deutschförderklasse mehr als ein Semester besuchen müssen – was nach Forschungserkenntnissen zum Zweitspracherwerb häufig angenommen werden kann –, werden damit de facto zurückgestuft und verlieren mindestens ein Schuljahr. Dies führt zu nachhaltiger Bildungsbenachteiligung.

•     Für die Umsetzung der geplanten Maßnahmen zur Sprachförderung fehlen seriöse Grundlagen: Zum Zeitpunkt der Begutachtung des Gesetzesentwurfs liegen weder die vorgesehenen Curricula für die Deutschförderklassen noch seriöse Verfahren zur Sprachstandsdiagnose und damit zur Entscheidung über die Zuteilung von Schülerinnen und Schülern zu den Deutschförderklassen bzw. Deutschförderkursen vor. Die Entwicklung solcher Curricula und entsprechender Sprachstandsdiagnoseverfahren braucht ausreichend Zeit, die aufgrund der kurzfristigen Einführung der Maßnahmen nicht gegeben ist. Damit bleibt Österreich weit hinter bisherigen nationalen und internationalen Standards der Entwicklung von Curricula und von Verfahren zur Sprachstandsfeststellung zurück.

•     Die Einführung von Deutschförderklassen anstelle der bisherigen Sprachstartgruppen und Sprachförderkurse mit dem Schuljahr 2018/19 ist unzureichend begründet und bringt für die Schulen enorme organisatorische Schwierigkeiten mit sich, da die Planung des Schuljahres auf der Basis der bisher gültigen Gesetze und implementierten Maßnahmen bereits erfolgt ist.  

•     Die mit Erlass vom 5. September 2016 (BMB-27.903/0015-I/4/2016) beschlossenen Maßnahmen zur Sprachförderung (Sprachstartgruppen und Sprachförderkurse) sollen nicht evaluiert werden, obwohl eine solche Evaluierung für Jänner 2019 vorgesehen war. Begründet wird der Entfall der Evaluierung in den Erläuterungen zu Z 2 (§ 8e Abs. 4) mit der „geforderten Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit“. Zukunftsorientierter und auch wirtschaftlich sinnvoller wäre allerdings, neue Maßnahmen auf der Basis einer seriösen Evaluierung bisher getroffener Maßnahmen zur Sprachförderung zu entwickeln. So wurde zwei Jahre lang in Sprachförderung investiert, ohne eine fundierte Aussage darüber treffen zu können, welche Effekte diese hatte und welche Schlüsse aus der bisherigen Praxis der Sprachförderung für die Entwicklung neuer Maßnahmen gezogen werden können.

 

Zu Artikel 3, Z. 1:

•     Mit der geplanten Gesetzesänderung wird das „ausreichende Beherrschen der Unterrichtssprache“ zum Kriterium für die Schulreife. Dies wird der Komplexität kindlicher Sprachentwicklung und der Lebenssituation mehrsprachig aufwachsender Kinder in keiner Weise gerecht und verstärkt bestehende Bildungsungerechtigkeit. Die damit de facto erfolgte Zurückstufung von Kindern aufgrund nicht ausreichender Deutschkenntnisse bringt hohe (Langzeit-)Risiken mit sich und führt zu massiver Bildungsbenachteiligung, wie einschlägige Studien deutlich machen. Weiters bleibt aufgrund der bisher fehlenden Ausarbeitung der Kriterien unklar, was „ausreichende“ Deutschkenntnisse bedeuten. Der zu erreichende Standard – „[…] Schulreif ist ein Kind, wenn es die Unterrichtssprache soweit beherrscht, dass es dem Unterricht in der ersten Schulstufe ohne besondere Sprachförderung zu folgen vermag […]“– bleibt unspezifisch und verdeutlicht folglich die fehlende wissenschaftliche und argumentative Grundlage dieser Gesetzesänderung.

 

Wir weisen überdies auf folgende Aspekte hin, die vor dem Hintergrund internationaler Forschungsergebnisse und langjähriger Praxiserfahrung für Maßnahmen zur Sprachförderung wesentlich sind: 

•     Spracherwerb ist ein längerfristiger Prozess und insbesondere die Entwicklung bildungssprachlicher Kompetenzen, die für den erfolgreichen Schulbesuch und eine dementsprechende Bildungsbiografie wesentlich sind, nimmt viele Jahre in Anspruch. Eine Beschränkung der Sprachförderung auf den Besuch von Deutschförderklassen oder Deutschförderkursen ist daher nicht sinnvoll. Sprachförderung muss im Sinne des erfolgreichen Konzepts Durchgängige Sprachbildung Teil des Regelunterrichts über die gesamte Bildungslaufbahn vom Kindergarten über den Pflichtschulabschluss bis zur Reifeprüfung sein.

•     Der Gesetzesentwurf baut in vielen Aspekten auf sehr gut ausgebildete Lehrkräfte in den Bereichen sprachliche Bildung und Sprachförderung, an denen es derzeit in Österreich mangelt. Zur sinnvollen, zielführenden und nachhaltigen Durchführung von Sprachförderung, der Integration von sprachlicher Bildung und dem Umgang mit Deutsch als Zweitsprache ist eine Erhöhung der Mittel für Maßnahmen der Fort- und Weiterbildung von Lehrkräften aller Unterrichtsgegenstände und in allen Schulformen dringend geboten.

•     Deutschkenntnisse dürfen kein Ausschlusskriterium aus Bildungsprozessen sein – der Zugang zum vollständigen Bildungsangebot in einer Schule darf nicht verwehrt werden, weil eine Schülerin oder ein Schüler Deutsch noch nicht im geforderten Ausmaß beherrscht. Somit steht der Gesetzesentwurf mit dem Ausbau der Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen mit nicht-deutschen Erstsprachen im Widerspruch zu Artikel 26 (Abs. 1) der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Jeder hat das Recht auf Bildung“.

•     Die sprachliche Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im Deutschen muss langfristig begleitet und gefördert werden. Dabei müssen Spracherwerbsfolgen und Lernprozesse berücksichtigt werden. Dafür ist ein Gesamtkonzept für durchgängige sprachliche Bildung und Sprachförderung vom Kindergarten bis zum Ende der Sekundarstufe II zu entwickeln und umzusetzen, das integrative und additive Fördermaßnahmen auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse verschränkt und Schülerinnen und Schüler möglichst rasch vollständig und tatsächlich in den Klassenverband integriert.

Wir verweisen auf die ausführliche Stellungnahme zum Bildungsprogramm der österreichischen Bundesregierung und insbesondere zu den Deutschförderklassen, die Lehrende und Forschende der Universitäten Wien, Graz, Salzburg und Innsbruck am 25. Jänner 2018 veröffentlicht haben:

www.univie.ac.at/germanistik/stellungnahme-bildungsprogramm-2017-2022-oesterreichische-bundesregierung  

In dieser Stellungnahme finden sich detailliertere Ausführungen zu den oben getroffenen Feststellungen zum vorliegenden Gesetzesentwurf.

 

Wir stehen für weitere Auskünfte und Gespräche selbstverständlich zur Verfügung und bringen unsere Expertise als Forschende und Lehrende im Bereich Deutsch als Zweitsprache sehr gerne ein, wenn es um die Entwicklung sinnvoller und zielführender Maßnahmen zur Sprachförderung geht.

 

Mit freundlichen Grüßen,

Federführend:

Dr.in sc. ed. Beatrice Müller, BA MA

Ass.-Prof. Mag. Dr. Hannes Schweiger

 

Univ.-Prof.in Dr.in İnci Dirim

Dr.in Alisha M.B. Heinemann

Dr.in Magdalena Knappik

Kevin Rudolf Perner, BA MA

Doris Pokitsch, BA MA